Zurück

Monteiro, Carlos A.

Carlos Augusto Monteiro ist ein brasilianischer Professor und international gefragter Experte, etwa bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Weltweite Aufmerksamkeit hat er erregt, weil er mit seiner „NOVA“-Forschungsgruppe das erste adäquate Modell vorgelegt hat zur Beurteilung der modernen Lebensmittelrisiken im 21. Jahrhundert. Die vierstufige NOVA-Klassifikation bewertet die Nahrung nach dem Grad ihrer Entfernung von der Natur. Besondere Aufmerksamkeit genießt dabei die vierte Stufe, die sogenannte ultra-verarbeitete Nahrung. Sie ist am weitesten von der evolutionär bewährten traditionellen Nahrung entfernt und gilt als wesentliches Risiko für die modernen Zivilisationskrankheiten.

 

Monteiro ist seit 1989 ordentlicher Professor an der Fakultät für Öffentliche Gesundheit der Universität von São Paulo. Er hatte dort Medizin studiert, seine Facharztausbildung absolviert und außerdem einen Post-Doc-Abschluss an der New Yorker Columbia-Universität erworben. Zwischen 1990 und 1992 arbeitete er in Genf bei der Welternährungsorganisation (WHO), war Gastprofessor an der dortigen Universität und in Bonn.

 

Mittlerweile sind seine Erkenntnisse weithin anerkannt, auch in internationalen Institutionen wie etwa der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wo Monteiro Mitglied der WHO Nutrition Guidance Expert Advisory Group ist, einer sachverständigen Beratungsgruppe zu Ernährungsfragen.

 

Professor Monteiro und seine Kollegen haben mit der NOVA-Klassifikation für Lebensmittel ein differenziertes Schema entwickelt, bei dem die unterschiedlichen Typen von Nahrung je nach Gefährdungspotenzial eingeordnet werden können. Es reicht von der Stufe 1 mit unverarbeiteten Lebensmitteln wie Früchten oder Fleisch über die Stufe 2 mit leicht verarbeiteten Produkten wie Butter, Stufe 3 mit Bier, Wein, Dosentomaten und dergleichen bis zur Stufe 4 mit den „ultra-verarbeiteten“ Problemnahrungsmitteln wie Fast Food, Softdrinks, Fertignahrung.

 

Für die NOVA-Forscher ist vor allem die Differenzierung wichtig. Denn nicht jedes Industrieprodukt ist ein Problemprodukt. »Lebensmittelverarbeitung als solche ist kein Problem«, sagt Professor Monteiro. Die meisten Lebensmittel sind in irgendeiner Weise verarbeitet, schließlich wird auch Olivenöl, Senf, Mehl oder Wein industriell hergestellt, ist aber für die Gesundheit völlig unproblematisch oder sogar förderlich.

 

Das Modell hat eine rasante Karriere gemacht, weltweit untersuchen Forscher an Universitäten und staatlichen Einrichtungen damit die Ernährungslage in vielen Ländern und die Zusammenhänge mit den großen »Seuchen«, den »Volkskrankheiten« von Alzheimer über Herzleiden und Krebs bis zur »Zuckerkrankheit« Diabetes.

 

Monteiro hat mit seiner Forschungsgruppe damit einen Paradigmenwechsel in der Beurteilung von Ernährungsrisiken eingeleitet und das erste adäquate Modell vorgelegt zur Beurteilung der modernen Lebensmittelrisiken im 21. Jahrhundert, das die Basis bilden könnte für eine neue, realistische Lebensmittelpolitik, die auf die wirklichen Gefährdungen abzielt und es erlaubt, die wesentlichen Bedrohungen durch Nahrung im 21. Jahrhundert begrifflich zu erfassen, wissenschaftlich zu erforschen und politisch zu bekämpfen.

 

»Der wichtigste Faktor bei der Betrachtung von Lebensmitteln, Ernährung und Volksgesundheit«, sagt Monteiro, »sind heute nicht mehr die Nährstoffe und nicht die Lebensmittel, sondern das, was mit den Lebensmitteln und den ursprünglich in ihnen enthaltenen Nährstoffen gemacht wird, bevor sie gekauft und verzehrt werden. Das heißt, es geht um die Lebensmittelverarbeitung – genauer gesagt, um Art, Umfang und Zweck der Verarbeitung – und um das, was mit Lebensmitteln und mit uns als Folge der Verarbeitung geschieht.«

 

Der Wissenschaftler sieht im 21. Jahrhundert einen „Krieg“ ums Essen, mit einer Schlachtordnung, bei der auf der einen Seite die Hersteller der traditionellen Lebensmittel stehen, kleine Bauern, Metzger, Köche, und auf der anderen Seite die global operierenden Food-Konzerne mit ihren „ultra-verarbeiteten“ Produkten. »Es ist ein Krieg«, sagte der Professor, »aber ein Ernährungssystem hat unverhältnismäßig mehr Macht als das andere.«

 

Um die globale Bedrohung durch das herrschende Ernährungssystem zu bekämpfen, müsste nach Monteiro eine zeitgemäße Lebensmittelpolitik vor allem gegen die ultra-ungesunde Nahrung vorgehen.

 

So müsste zum Beispiel dafür gesorgt werden, dass die Folgekosten der ungesunden Produkte nicht der Allgemeinheit aufgehalst werden, sondern ihren Herstellern – mit dem Ziel, dass sie teurer werden und das Gesunde billiger. Vor allem aber sollte ein angemessenes Risikobewusstsein geschaffen werden, meint Monteiro: »Jegliche Förderung und Werbung für ultra-verarbeitete Produkte sollte verboten werden, und ihre Etiketten sollten deutliche Warnhinweise enthalten.«

 

Zusätzlich sollte die Förderung des Ungesunden gestoppt werden:

 

»Alle Subventionen und sonstigen Anreize für den Anbau von Pflanzen, die ausschließlich oder überwiegend als Zutaten für ultraverarbeitete Lebensmittel oder als Futtermittel für Tiere, die hauptsächlich für ultraverarbeitete Lebensmittel bestimmt sind, verwendet werden, sollten gestrichen werden, und die Zerstörung von Wäldern und anderen ökologisch wertvollen Flächen, um solche Pflanzen anzubauen oder Tiere zu halten, sollte verboten werden.«

 

Sodann sollten die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten der ungesunden ultraverarbeiteten Nahrung ermittelt werden: »Die Maßnahmen sollten regelmäßig aktualisierte Schätzungen der finanziellen und sonstigen Kosten der persönlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Auswirkungen von ultra­verarbeiteten Lebensmitteln sowie der entsprechenden Kosten umfassen«, fordert Monteiro.

 

Diese Kosten sollten dann sinnvollerweise auf die ungesunden Produkte übertragen werden: »Die Besteuerung sollte in zwei Stufen erfolgen. Die erste Steuer sollte auf Zutaten erhoben werden, die ausschließlich von Herstellern ultraverarbeiteter Lebensmittel verwendet werden, insbesondere kosmetische Zusatzstoffe. Die zweite Steuer sollte auf das Produkt erhoben werden, das an Verbraucher verkauft wird. Die Besteuerungsniveaus sollten so berechnet werden, dass Einnahmen erzielt werden, die einem erheblichen Prozentsatz der derzeit von den Kapitalgesellschaften er-zielten Gewinne entsprechen.

 

Und die Einnahmen sollten schließlich zur Verbesserung von Nahrung und Ernährung verwendet werden: »Mit den erzielten Steuereinnahmen sollten Programme zur Unterstützung der Produktion und des Konsums gesunder Lebensmittel, zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit und zur Überwachung der Fortschritte finanziert werden. Ein Großteil der Einnahmen sollte verwendet werden, um lokale Genossenschafts- und Familienbauern und Kleinhändler zu unterstützen, unverarbeitete und minimal verarbeitete Lebensmittel verfügbarer und erschwinglicher zu machen, gesunde Mahlzeiten in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen sicherzustellen und die Einzelhandelspreise für unverarbeitete und minimal verarbeitete Lebensmittel zu subventionieren oder anderweitig zu senken oder zu stabilisieren, damit sie für gefährdete Gemeinschaften und Familien erschwinglich sind.«

 

Siehe auch: Hans-Ulrich Grimm: Food War.